Wahnsinn – 30 Jahre ist die Wende schon her Teil 2
Heute kommt Teil 2
und ich finde es krass, was einem doch noch so alles einfällt, wenn man erstmal anfängt zu schreiben. Wie ging es also weiter und wie habe ich das alles damals erlebt, mit meinen 11 Jahren. Genauso wie heute hat man ja in dem Alter damals auch nicht wirklich Nachrichten geschaut. Ich weiß nur noch, dass ich immer Briefe mit der Tochter unserer Westverwandtschaft geschrieben habe. Den genauen Verwandtschaftsgrad kann ich euch gar nicht sagen, da bin ich nie durchgestiegen. Außerdem waren es ja eh alles Tanten und Onkel, siehe Teil 1. Wahnsinn – 30 Jahre ist die Wende schon her.
Jedenfalls, war sie ein Jahr älter
und wir schrieben uns regelmäßig. Sie schrieb immer von ihrer Clique und den Urlauben, wo sie schon überall war. Das machte mich immer ein wenig neidisch. Denn meistens waren auch Fotos dabei und man konnte Strand und all sowas sehen. Ihr wisst denke ich, was ich meine. Wir fuhren nie irgendwo in Urlaub, wenn dann zu den Verwandten, nach Ostberlin. Da kam nämlich meine Mom her. Irgendwann fingen dann meine Eltern von Demonstrationen zu erzählen. Die Menschen gehen auf die Straße und wollen ihre Freiheit. Montagsdemonstrationen gehörten zur friedlichen Revolution. Wahnsinn – 30 Jahre ist die Wende schon her.
Ich kann mich nur noch erinnern,
dass immer mehr Menschen auf die Straße gingen. Irgendwann saß auch ich vor dem Fernseher und schaute mir die ganzen Berichte dazu an. Es war ein komisches Gefühl, so wie ich es heute ab und an noch habe, wenn ich Berichte darüber sehe. Die Menschen wollten ihre Freiheit und dafür kämpften sie. Jeden Tag die gleichen Berichte und immer mehr Menschen, die sich trauten. Ich meine bei dem, was ich im nach hinein so alles mitbekommen habe, kann ich nur den Hut davor ziehen.
Es sind ja weiß Gott
genug umgekommen, bei dem Versuch zu flüchten. Genaue Zahlen gibt es ja wohl noch immer nicht. Ich habe mir einen Teil der Grenze mal zusammen mit meinem Wessimann und meinen Kindern angesehen. Einmal die Gedenkstätte in Marienborn und den Schutzstreifen in Hötensleben. Da wird einem ganz anders, sag ich euch. Wahnsinn – 30 Jahre ist die Wende schon her.
Wenn man sich vorstellt,
was Menschen so alles mitmachen mussten, nur um über die Grenze zu kommen. Wie erfinderisch sie waren, um flüchten zu können. Für mich das Faszinierendste daran, war immer wie die Wessis die die es geschafft haben aufgenommen haben. Sie haben mitgezittert und sie so herzlich aufgenommen, das ist Wahnsinn. Warum war das so? Diese Frage konnte mir bis jetzt noch keiner beantworten.
Wahnsinn – 30 Jahre ist die Wende schon her
Kommen wir wieder zu meinen Erlebnissen, bin schon wieder ein wenig aus dem Ruder geraten. Menschen auf den Straßen, die riefen „Wir sind das Volk“. Puh Gänsehaut, nur bei dem Gedanken daran. Dann irgendwann sagten meine Eltern, wir dürfen in den Westen. Was, ehrlich? Ganz sicher waren sie sich nicht. Irgendwann kam es dann ja auch in den Nachrichten und weil wir uns nicht sicher waren, setzten wir uns kurzerhand ins Auto und fuhren Richtung Autobahnbrücke. Ich weiß noch, es war dunkel und ich war aufgeregt, weiß gar nicht genau warum.
Mein Vater stellte das Auto ab
und wir liefen zur Autobahnbrücke und konnten nicht glauben, was wir da sahen. Ich kannte ja die Autobahn, aber so voll habe ich sie zu DDR-Zeiten nie gesehen. Man stelle sich vor, von unserem damaligen Wohnort bis zum Grenzübergang Marienborn sind es circa 23 km über die jetzige A2. Ich weiß gar nicht wie sie damals hieß. Was ich sagen will, die Autos standen. Es war Stau, sowas hatte ich bis dato noch nie gesehen. Alle hupten und grölten und freuten sich, dass sie endlich in den Westen durften. Als ich das sah wollte ich das auch, aber meine Eltern natürlich nicht. Sie sagten, wir warten erstmal, bis der große Andrang vorüber ist. Wahnsinn – 30 Jahre ist die Wende schon her.
Jeder wollte in den Westen
und gefühlt jeder fuhr auch los, nur wir nicht – so typisch. Heute denke ich, vielleicht wollte mein Vater das ja gar nicht. Was ich manchmal so zu hören bekommen habe, er war mal bei der Polizei, irgendeine Spezialtruppe bei der Armee (NVA). Nachdem was ich später so erfuhr, habe ich mich oft gefragt, ob man für diese Dinge nicht auch in der Partei sein musste bzw. vielleicht auch in der Stasi war? Ich weiß es wirklich nicht und bin mir auch gar nicht sicher, ob ich das wissen will. Wenn jemand genaueres weiß, wie das damals so ablief, wäre ich dankbar für eine Auskunft.
Unheimlich,
über was man im Nachhinein so grübelt. War mein Vater in der Partei, war er ein Stasiangehöriger. Oh Gott, soviel ich weiß kann man ja die Akten einsehen, aber will ich das wissen? Nein, ich denke nicht. Schreiben wir weiter. Wie ging es weiter nach dieser Nacht? Ich weiß noch, dass wir wirklich zwei Wochen warten mussten. Mir hat das gar nicht gepasst, aber was hat man als Elfjährige für eine Wahl. Im Fernsehen konnte man immer wieder Berichte dazu sehen. Endlich kam dann der Tag und auch wir fuhren endlich los. Wahnsinn – 30 Jahre ist die Wende schon her.
Ab auf die Autobahn
und wie ich schon sagte war es ja nicht so weit, bis zum Grenzübergang. Als wir diesem näher kamen, sagten unsere Eltern ganz ernst, wir sollten ordentlich sitzen und uns benehmen. Mich überkam das Gefühl, dass meine Eltern Angst hatten. Das war früher ja auch bestimmt so, denn in den Köpfen der Älteren war ja eingebrannt, dass der Westen der Klassenfeind ist und man da nicht hindarf. Erst als wir den Grenzübergang hinter uns gelassen haben, wurden meine Eltern wieder entspannter. Irgendwo in Helmstedt parkten wir dann und meldeten uns wegen dem Begrüßungsgeld in Höhe von 100,00 DM pro Person. Ich fühlte mich wieder komisch, kam mir vor als würde ich betteln. Kann nicht sagen warum, aber war so.
Nachdem wir dann das Westgeld bestaunt hatten,
liefen wir in die Stadt. Es war alles so bombastisch. Fühlte sich so an wie Weihnachten und das nicht nur, weil es ja auch auf Weihnachten zuging. Wir sahen Obststände mit Obst und Gemüse, welches wir gar nicht kannten. Bananen und Orangen in Hülle und Fülle und niemand stand dafür an. Es war wie in einer anderen Welt. Der erste große Laden in dem wir waren und ich erinnere mich auch nur noch daran, war Woolworth. Gibt’s ja heute auch noch. Wir waren auch noch in einem Supermarkt, aber mir fällt der Name nicht mehr ein. Wahnsinn, all die Dinge die wir sonst nur in der Werbung gesehen haben, konnten auch wir jetzt endlich kaufen.
Wahnsinn – 30 Jahre ist die Wende schon her.
Na was denkt ihr, was habe ich mir als erstes gekauft? Das erste Mal im Westen shoppen. Ich war elf, was habe ich mir gekauft? Die Auflösung gibt’s am Ende. Was habt ihr euch denn gekauft? Das würde mich auch interessieren. Ich glaube, die Leute müssen uns alle für komplett irre gehalten haben. Ich für meinen Teil, kam aus dem Staunen nicht mehr raus. Scheiblettenkäse in Massen, Milka Schokolade, Kinderschokolade, Haribo. Es gab einfach alles was wir sonst nur aus den Westpaketen kannten und wir wollten logischerweise alles probieren. Alles was es im Westen gab, vor allem die vielen verschiedenen Obstsorten, die es bei uns ja nicht gab.
Es war alles so aufregend
und gefühlt für mich, eine kurze Zeit, die schönste Zeit meines Lebens. Aber, genau jetzt kommt mein aber und mein Spruch – dann kam die Wende und somit das Ende. Für mich und meine Schwester war es auch so. Denn meine Eltern und meine Omas kamen wohl damit nicht klar. Sie waren Ossi durch und durch und so kam es, dass wir auch weiter so erzogen worden. Der Westen ist scheiße. Alle Wessis schwimmen im Geld und haben alle goldene Wasserhähne. Uns wurde eingebläut, dass alle nur Betrüger sind, sie uns alle verarschen. Das war eine Zeit oh je. Wahnsinn – 30 Jahre ist die Wende schon her.
Wie ich ja bereits sagte,
meine Eltern haben gutes Geld verdient und auch meine Oma. Sie hatte Sparbücher für uns, einfach alles und am Ende, nach der Wende war dann alles weg. Jetzt fragt ihr warum? Anfangs war es für mich noch verständlich, denn man wollte nun auch Dinge aus dem Westen haben. Fernseher, Autos und all so ein Kram. Allerdings gab es auch viele, die die Ossis für dumm hielten (was ja streckenweise auch so war) und viele Dinge einfach total überteuert angeboten worden. Mein Vater kaufte dies, er kaufte das. Diese Dinge hielten meist nicht lange, weil sie einfach reif für den Schrott waren. Tut mir leid, aber solche Sachen wurden damals an uns dummen Ossis verkauft.
Ich habe das auch erst später mitbekommen,
als ich älter wurde, aber da war es dann ja schon zu spät. Auf jeden Fall kam es so, dass mein Vater alles was wir hatten irgendwann für irgendwelchen Kram ausgegeben hatte und zu guter Letzt hat er in seinem Suff, dann noch seinen Job gekündigt mit der Aussage, für einen Wessi arbeitet er nicht. Wahnsinn – 30 Jahre ist die Wende schon her. Für meine Schwester und mich, war die Wende somit das Ende. Was so schön anfing, ging pö a pö den Bach runter. Beide Eltern keinen Job mehr, der Alkohol trat immer mehr in den Vordergrund, die Geldprobleme wurden immer schlimmer. Ab diesem Zeitpunkt gehörten meine Schwester und ich nicht mehr zu den Leuten, die ich sag mal anerkannt wurden, sondern wir waren nur noch die Kinder von den Säufern.
Das ist so traurig
und es hörte nie wieder auf. Der Alkohol, war der Tod für beide, vielleicht war es auch die Wende. Ich weiß es nicht, aber ich habe des Öfteren gehört, dass es wohl einige gegeben haben soll, die mit der Wende absolut nicht klarkamen. Mein Vater war wohl auch einer davon und er hat meine Mom mit runtergezogen, denn sie war abhängig von ihm und was er sagte war Gesetz. Vielleicht hätte sie besser damit umgehen können, wenn er nicht gewesen wäre. Aber dann wären wir ja auch nicht. Also was solls, es ist geschehen und ich kann nichts mehr daran ändern, außer dass ich es heute besser machen will.
Erzählt mir eure Geschichte, wie war die Wende für euch? Gut gegangen oder eher schlecht? Ich freu mich drauf.
Auflösung zur Frage, was habe ich mir als erstes im Westen gekauft?
Eine BRAVO. Na wer kennt es noch, das Dr. Sommer Team?